Wirtschaftsspiegel Thüringen - Ausgabe 5/15 - page 4

25 Jahre Thüringen – 25 Jahre Deutsche Einheit
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25 Jahre „Made in Thuringia“
Mut schlägt Verzagtheit
Mitte September wurde in Suhl der
Südthüringer Unternehmerpreis „MuT“
verliehen. Drei Unternehmen wurden
geehrt, die für die wirtschaftliche Ent-
wicklung hierzulande typisch sind: Mit-
telständler, nach dem Herbst '89 neu
oder aus einem ehemaligen „Volkseige-
nen Betrieb“ ausgegründet, bis heute
entweder inhabergeführt oder in einem
größeren Firmenverbund aufgegangen.
Es sind genau diese Unternehmen, die
für Mut und die Bereitschaft stehen,
Verantwortung, aber auch Risiken zu
übernehmen. Sie sind das Fundament
für den heutigen wirtschaftlichen Erfolg
unseres Landes.
Jetzt, 25 Jahre nach der friedlichen Re-
volution und dem Geschenk der neuen,
auch unternehmerischen Freiheit ist der
richtige Zeitpunkt, den Blick für das
Erreichte zu schärfen: Uns Deutschen,
uns Thüringern ist mit dem Aufbau Ost
eine erstaunliche und einmalige Leis-
tung gelungen. Ich weiß wohl, der „Auf-
bau Ost“ ist in die Jahre gekommen,
eher Unwort des Vierteljahrhunderts. So
mancher redet die Erfolge klein und
hebt besonders gern die noch beste-
henden Baustellen hervor. Wohl wahr,
an vielen Stellen lassen die üppig blü-
henden Landschaften auf sich warten.
Entvölkerte Kleinstädte, drohende
Altersarmut, überdurchschnittliche Ar-
beitslosigkeit sind der scheinbar unwi-
derlegbare Beleg dafür, dass die sozia-
le Einheit aussteht. Mancherorts
wachsen Ungeduld und Zukunftsängste.
Im Rundumschlag bezichtigt man alle
Politiker der Unfähigkeit, wendet sich
ab oder protestiert lauthals. Die „Un-
kenrufer“ sind unüberhörbar.
Ihnen sollten wir entgegenhalten:
Innerhalb von nur 25 Jahren ist die alte
DDR-Planwirtschaft durch eine in wei-
ten Teilen auch international wettbe-
werbsfähige Marktwirtschaft abgelöst worden. Im
Zuge einer durchgreifenden Re-Industrialisierung
nach dem Herbst ‘89 sind vier Fünftel der
Unternehmen, die heute in Thüringen aktiv sind, neu
entstanden und haben sich in einem saturierten
Marktumfeld und gegen etablierte Wettbewerber mit
ihren Produkten und Dienstleistungen behauptet. Im
Ergebnis liegt die Wirtschaftsleistung je Einwohner in
Thüringen heute bei 70 Prozent, die Produktivität und
Kapitalausstattung bei rund 80 Prozent des West-
niveaus. Die jahresdurchschnittliche Arbeitslosen-
quote hat sich gegenüber dem Höchststand 1997
inzwischen mehr als halbiert, und bei der Erwerbstäti-
genquote liegt der Freistaat mit über 72 Prozent
gleichauf mit den alten Bundesländern.
Ostdeutschland hat seine Infrastruktur und seine
Industrie in den letzten 25 Jahren grundlegend mo-
dernisiert. Die Unternehmen wachsen, die Arbeits-
losigkeit sinkt. Einige ostdeutsche Länder wie Sachsen
und Thüringen verzeichnen inzwischen wieder einen
positiven Wanderungssaldo, selbst die Lohnentwick-
lung ist zuletzt sehr positiv gewesen.
Trotz alledem lese ich: Alles Augenwischerei, der
Aufbau Ost, der wirtschaftliche Aufholprozess sind ge-
scheitert, die Angleichung der Lebensverhältnisse ge-
lingt am Sanktnimmerleinstag!
Wie immer kommt es vor allem auf die Erwartungen
und die Sichtweisen an. Ein pauschaler Ost-West-
Vergleich spiegelt die Realität nur unzureichend wi-
der. Im Durchschnitt war der See einen halben Meter
tief und dennoch ist die Kuh ertrunken. Stellen wir den
Scheinwerfer anders auf. Vergleicht man die einzel-
nen Bundesländer miteinander, ergibt sich ein deut-
lich differenzierteres Bild. Da liegt beispielsweise
Thüringen bei wichtigen Indikatoren vor einigen west-
deutschen Bundesländern: Die Arbeitslosenquote ist
hier niedriger als in Nordrhein-Westfalen, Hamburg
und Bremen, die Dichte der Industriearbeitsplätze ist
höher als in NRW oder Niedersachsen, Jena bietet bei
Patentanmeldungen das Vierfache, die Exportquote
das Anderthalbfache des Bundesdurchschnitts. Die
Liste ließe sich verlängern. Aus dieser Perspektive
werden die wirtschaftliche Angleichung und der sozio-
ökonomische Aufholprozess also sehr wohl sichtbar.
Richtig ist aber auch: Der Prozess muss
Fahrt aufnehmen. Für den Aufbau Ost
ist gerade einmal Halbzeit. Ein über
40 Jahre gewachsener ökonomischer
Rückstand lässt sich, das wissen wir in-
zwischen, eben nicht schon in der hal-
ben Zeit vollständig aufholen. Was wir
in Sachen „Aufbau Ost“ jetzt brauchen,
sind genau vier „Tugenden“: Erstens die
Geduld, Kurs zu halten und kontinuier-
lich auf die nächsten Erfolge hinzuar-
beiten; zweitens das Selbstbewusstsein,
uns schon Erreichtes nicht klein- reden
zu lassen; drittens die Fähigkeit, uns
von Pauschalurteilen, falschen Verglei-
chen und Maßstäben freizumachen und
bei der Beurteilung der Lage stärker zu
differenzieren; und schließlich viertens
den Mut, neue Lösungen und Visionen
für unser Thüringen zu entwickeln und
zu realisieren.
Wir werden weiter die Ärmel aufkrem-
peln und die wichtigsten Felder mit au-
ßergewöhnlicher Tatkraft beackern
müssen: Investitionen der öffentlichen
Hand und der Unternehmen verstärken,
Fachkräfte aus dem In- und Ausland ge-
nerieren, Innovationen durch verstärkte
Forschung und Entwicklung im Mittel-
stand befördern, internationale Märkte
erschließen und schließlich eine Hal-
tung gegenüber der Selbständigkeit he-
rausbilden, die Thüringen zum Gründer-
und Unternehmerland entwickelt.
Es gibt Menschen, die schütteln so lan-
ge ihren Kopf über der Suppe, bis sie
ein Haar darin finden. Wir gehören nicht
zu jenen Zeitgenossen, die Stanislaw
Lec so beschreibt. Wir lamentieren
nicht, wir mögen Herausforderungen
und nehmen sie beherzt an. Jeder und
jede ist willkommen, in diesem Sinne
anzupacken.
Wolfgang Tiefensee
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Wolfgang Tiefensee, Thüringer Minister für Wirtschaft,
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Wissenschaft und Digitale Gesellschaft
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